Utopie und Eros:
Der Traum von der Moderne.
5. Internationaler Otto Gross Kongress
16. - 18. September 2005
Dada-Haus, Zürich
cabaret voltaire, Spiegelgasse 1, 8001 Zürich


Abstracts

Freitag, 16. September 2005, 18.00 Uhr

Eröffnung und Begrüßung:
Raimund Meyer, Zürich, Juri Steiner, Zürich, "cabaret voltaire"
Sophie Templer-Kuh, Berlin; Dr. Gottfried Heuer, London

Festvortrag
Stefan Zweifel, Zürich:
SATZ/GLIED/ORGIEN. Der Traum totaler Entgrenzung von Sade bis Dada.

Was ist Erotik? Was ist Sprache? Und was Sprach-Erotik? Der Marquis de Sade gelangte über die Zerstümmelung und Zertrümmerung der Körperglieder in der Orgie an jenen Punkt, wo es ihm die klassische Sprache zerschlug und er nur noch durch Wortschöpfungen wie "Chivarusmarbarmavocsacromicropauti" dem tiefen Befremden über das Treiben des menschlichen Tieres Ausdruck geben konnte.

So wie sich in seinen Orgien ein vielphallischer und tausendbrüstiger Lust-Körper bildete, ein eigentliches Lust-Molekül, in dem die einzelnen Menschen nur noch als Elementarteilchen eine Rolle spielen, so fand er zu einer Sprache, die nur noch im syntaktischen Taumel der Satzglieder und in der Auflösung des grammatikalischen Sprachkörpers der erotischen Körpersprache entsprechen konnte.

Umgekehrt gerieten die Dadaisten bei der Zerschlagung der Sprache durch Laut-Lust&Leidenschaftsgedichte in einen Zustand des Taumels, wo man nur noch wie Richard Huelsenbeck das Stöckchen durch die Luft schwingen und aufs Publikum einpeitschen konnte. Weshalb?

Herr und Knecht, Künstler und Publikum, Patient und Arzt stehen stets in einem sado-masochistischen Spannungsverhältnis. Freud versuchte in immer neuen Ansätzen, das dunkle Geheimnis des Sado-Maoschismus zu enträtseln, ohne je zu einem Ende zu kommen. Denn die "Destruktionssymbolik" verweist, wie Otto Gross es nur noch in Wortmonstern wie "Nichtvergewaltigtwerdenwollen" andeuten konnte, auf eine radikale Rebellion, die nicht nur den fremden Körper zerstückelt, sondern all jene Formen des Fremden "negiert", die das Innere des Kindes zu einer Zeit strukturieren, wo es sich gegen den Druck von aussen noch nicht zur Wehr setzen kann. Die gesamte Kultur ist in diesem Sinne eine einzige Vergewaltigung.

Wenn man sich wirklich zur Wehr setzen will, muss man also auch noch die Logik zerstören, auf der sowohl die Kultur wie auch die psychoanalytische Ausdeutung des Unbehagens beruhen. Über Freud hinausgehend gelingt diese radikale In-Frage-Stellung vielleicht nur in der Kunst, in der völligen Auflösung sämtlicher Sinn- und Sprachstrukturen. Insofern war der Marquis de Sade für die Dadaisten der "grosse Nichtsgummi" (Hans Arp).

Man musste damals sämtliche bürgerlichen Kunstkonventionen ausradieren, um wieder zurück zu gelangen und einzutauchen in die "chaotische Allperversität": Dieses Chaos wurde laut Otto Gross geordnet und kanalisiert durch die Zwangsmechanismen der Vater-Familie, deren innere Gewaltstruktur später in der Sexualität ständig nachgespielt wird. Doch der Vater als Statthalter des Gesetzes, des Sinns und der Sexualität wurde von den Dadaisten ausradiert, um ins "chaotisch quellende Neugestalten" zurückzufinden und als Kind-Künstler alles nochmals von vorne anzufangen, um zu neuen Lösungen und Auflösungen zu kommen. Leider führte auch diese Subversion wieder nur zu neuen Zwängen und neuen Vätern.

Die Schriften des Marquis de Sade, einst verbrannt und verboten, werden heute in gediegenen Klassiker-Editionen feilgeboten. Dada, einst verlacht und verhöhnt, ist schon längst ein erfolgreiches Kunstlabel, wobei das dadaistische NEIN in ein kunstmarkt-kompatibles JA pervertiert wurde. Ihre Lust am Chaos ist wieder in festen Strukturen und Klischees vom Kunst-Rebellen erstarrt. Was einst verstörend wirkte, ist zur neuen Norm aufgestiegen. Vielleicht gelingt es, mit Otto Gross ins verdrängte Zentrum von Sade und Dada vorzustossen, sie von ihrer Einbindung in die heilige Familie der Moderne zu befreien und den grossen Gedenksgottesdienst an die revolutionären Denker und Dichter zu stören.

Sabotage der Familie! Dazu rief Otto Gross auf. Doch zu dieser Familie gehören schon längst die Verehrer von Sade und Dada. Man muss also auch sie sabotieren.

STEFAN ZWEIFEL, schloss in Zürich ein Studium der Philosophie, Komparatistik und Aegyptologie mit einer Arbeit über den Marquis de Sade, Hegel und La Mettrie ab, unter Berücksichtigung von Dada und Surrealismus. Zusammen mit Michael Pfister übersetzte er de Sades 10-bändige "Justien und Juliette" und ko-kuratierte die Ausstellung im Kunsthaus SADE/SURREAL

Sonnabend, 17. September, 10.00 Uhr

Petteri Pietikäinen, Helsinki:
Psychological Utopianism in Otto Gross' Thought.

Compared with the great socialist and anarchist utopias of the nineteenth century, there were relatively few utopian authors in the twentieth century. Yet, far from being extinguished, utopianism only assumed new, less explicit forms in the past century. One modern offshoot of utopianism found inspiration in evolutionary theories, while another looked into the depths of the human psyche and found the Unconscious, the great Noplace (u-topos). Although far from being a utopian writer himself, Freud was instrumental in launching not only a major intellectual revolution but also a form of utopianism that was founded on the psychological notion of inner transformation as a prerequisite for social change. While European psychoanalysts, psychologists and psychiatrists did not offer complete utopian blueprints (as American neo-behaviourist B. F. Skinner did with his Walden Two), some of them incorporated utopian elements in their writings. Most notably, one can discern distinct utopian elements in the writings of Otto Gross, C. G. Jung, Wilhelm Reich, and Erich Fromm. These authors were, however, not strictly speaking utopian writers, because they never wrote fictional 'speaking-picture' utopias in which they would have described a non-existent society usually located in time and place. Rather, their writings exemplify a form of utopianism in which the imaginative forms of social dreaming are related to depth-psychological assumptions about the functioning of the human psyche.

In this paper/presentation, I will argue that Otto Gross' thought exhibits a form of early twentieth-century 'social dreaming' that found inspiration in the myth of matriarchate, in the idea of innate altruism of humans, and in the utopian desire to transform the human condition through the liberation of people from the shackles of patriarchal authoritarianism. In his late vision of Mutterrechtlicher Kommunismus, Gross combined mythical, political and depth-psychological thought in a way that, though largely unacknowledged until the late twentieth-century, provided a utopian blueprint for such later authors as Wilhelm Reich and Erich Fromm.

PETTERI PIETIKÄINEN, PhD, Docent in intellectual history, Department of History, University of Helsinki, P.O.Box 59, FI-00014 Helsinki, E-mail: petteri.pietikainen@helsinki.fi, Internet: myprofile.cos.com/popietik

Gottfried Heuer, London:
Die spirituelle Revolution: Psychoanalyse und sakrale Politik - Otto Gross und Johannes Nohl. Zum Ursprung der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Religion.

Ausgehend von der Krise der Religion seit der Aufklärung wird der Werdegang von Otto Gross und seinem - psychoanalytisch betrachteten - Schüler Johannes Nohl, denen es zusammen mit Erich Mühsam in Ascona zum ersten Mal gelang, Religion und Psychoanalyse in einer Weise zu verbinden, die auch heute noch aktuell und zukunftsweisend ist. Bedeutete das damit verbundene Konzept im Kern für Gross die zwischenmenschliche Beziehung und die Orgie, so war für Nohl das Gebet das dementsprechende.

Der Autor schildert die Rezeption dieser Ideen durch diejenigen, die Gross nahestanden - Frieda Gross und Else Jaffé aber auch die fiktiven Darstellungen von Werfel und Szittya - und untersucht die Berechtigung ihres weitgehend negativen Verständnisses.

GOTTFRIED HEUER, Dr. phil., ist Lehranalytiker und -supervisor der Association of Jungian Analysts, mit privater Praxis in London. Die erste Hälfte seiner über 30-jährigen therapeutischen Praxis arbeitete er als Neo-Reichianischer Körperpsychotherapeut. Er lehrt an verschiedenen Universitäten und Ausbildungsinstituten und ist Mitbegründer und Vorsitzender der Internationalen Otto Gross Gesellschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zu Gross, Nohl, Reich und Jung in deutscher, englischer, finnischer, französischer und portugiesischer Sprache; (Mit-)Herausgeber sämtlicher Berichtsbände von Kongressen der Internationalen Otto Gross Gesellschaft

Andreas B. Kilcher, Köln:
Sexuelle Revolution und jüdische Befreiung: Otto Gross und Anton Kuh

Anton Kuh Essay "Juden und Deutsche" ist ein energischer und aufwühlender Beitrag zur Selbstbestimmung des Judentums zwischen 1900 und 1933. In seiner kritischen Analyse vor allem des deutschen Judentums unterzieht er die damals gängigen Positionen - die der Assimilation und die des Zionismus - einer witzigen und zugleich polemischen Kritik, dies aber von einem ungewöhnlichen Standpunkt aus: Nicht nur von Ludwig Börne und Friedrich Nietzsche, sondern vor allem von Otto Gross' anarchistischer Überbietung der Psychoanalyse her argumentierend, stellt er diesen "bürgerlichen" Versionen des modernen Judentums eine antibürgerliche entgegen, eine nach Kuh allerdings genuin jüdische Moderne: die der Diaspora, die er als moderne "Sendung des Judentums" beschwor.

ANDREAS B. KILCHER, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Buchpublikationen: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, Stuttgart: Metzler 1998; mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München: Fink 2003. - Als Herausgeber: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart: Metzler 2000, erneut Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003; Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, Stuttgart: Metzler 2003; Andreas Kilcher veranstaltete eine kommentierte und dokumentierte Neuausgabe von Anton Kuh's Essay "Juden und Deutsche" im Wiener Löcker-Verlag, 2003

13.00 - 14.00 Uhr Pause

14.00 - 16.00 Uhr Mitgliederversamlung der Internationalen Otto Gross Gesellschaft e.V.

Anschließend:

Prof. Gernot Kocher, Graz:
Der junge Otto Gross aus elterlicher und verwandtschaftlicher Sicht.

Der Vortrag gründet sich auf rund 400 kürzlich auf dem Antiquitätenmarkt in Wien aufgetauchte Briefe von Hans Gross, Adele Gross, Fanny Gross und Marie Haueisen (Tante von Hans Gross). Diese Briefen aus der Zeit von 1880 bis 1915 liefern vor allem bisher unbekannte Informationen über die Jugendzeit von Otto Gross und sein Verhältnis zu Eltern, Verwandten und Bekannten. Hervorstechendste Aussage ist wohl die Tatsache, dass die Jugendjahre von Otto ziemlich isoliert von gleichaltriger Jugend nur von Erwachsenen, nämlich den Eltern, bestimmt worden sind. Zentrale Aussage von Otto im Alter von etwas 10 Jahren: Er brauche nur ein Haus, einen Garten, einen Hund und wenn er noch Leute sekkieren könne, sei er schon zufrieden. Die Briefe ab 1911 vermitteln eher ein Bild des sich sorgenden Vaters um das Schicksal des Sohnes und werfen auch ein Licht auf das Netzwerk, dessen sich der Vater zur "Rettung" des Sohnes bediente.

Günther Windhager, Wien:
Vom Kaffeehaus an den saudischen Königshof - Leopold Weiss'
(Muhammad Asad) Begegnungen in Wien und Berlin auf seinem Weg zum Islam"

Leopold Weiss wurde im Jahr 1900 im galizischen Lemberg geboren, von wo der Enkelsohn eines orthodoxen Rabbiners 1914 nach Wien kam. Während seines Studiums der Philosophie und Kunstgeschichte zunächst noch in Wien, gehörte Weiss in den frühen 1920er Jahren zur journalistischen und künstlerischen Boheme in Berlin. In einer Epoche sozialer und kultureller Umbrüche war Weiss ein Suchender, der als Nahost-Korrespondent der "Frankfurter Zeitung" für sich den Islam entdeckte. Im Anschluss an seine Konversion kam Weiss, nunmehr Muhammad Asad, 1927 in das Gebiet des heutigen Königreiches Saudi-Arabien. Hier lebte er bis 1932 als Korrespondent u. a. der "Neuen Zürcher Zeitung", unterhielt enge Kontakte zur Herrscherfamilie und fand Aufnahme in den Beraterstab von König Abd al-Aziz Al Saud. Später hat Asad an der Gründung des Staates Pakistan mitgewirkt, den er 1952 als Gesandter bei der UNO in New York vertrat. In der Folge wurde er zu einem einflussreichen Autor und islamischen Gelehrten, Koranübersetzer und -kommentator sowie zu einem bedeutenden Mittler zwischen den Kulturen. Muhammad Asad verstarb 1992 in Spanien.

GÜNTHER WINDHAGER, Mag. Dr., geb. 1964; Studium der Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien; von 2001 bis 2003 wiss. Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Kommission für Sozialanthropologie; Kommission für literarische Gebrauchsformen); Forschungsschwerpunkte: Leben und Werk von Leopold Weiss/Muhammad Asad, Identität/Konversion, Travel Writing Vorderer Orient; Buchpublikation: "Leopold Weiss alias Muhammad Asad. Von Galizien nach Arabien 1900-1927"

Prof. Erdmute Wenzel White, West Lafayette, Indiana:
Otto Gross, Blaise Cendrars, and the Brazilian avant-garde.

The Swiss-French poet Blaise Cendrars [Frédéric-Louis (Freddy, Fritz) Sauser, 1887-1961] declares in an unpublished fragment of his novel "Moravagine": "À l'origine était le sexe et le sexe flottait sur les eaux" (In the beginning was sex and sex dwelt upon the waters). Cendrars's biblical "dissent" does not supplant the notion of a "divine spirit." Sex embraces genuine spirituality: it is the fiery texture of life. Cendrars, a poet of charismatic energies and verbal provocation, cultivates a capacity for limitless sensation. He loathes the fettered mind, the apologizing existence. In his own life and in his hybrid fiction, he seeks to experience the dark gratification of the disordered mind.

During the summer semester 1909 he studied medicine at the University of Berne. His daughter, Miriam Gilou-Cendrars, suggests that he either worked at the Waldau psychiatric clinic near Berne, or that he was himself briefly a patient (Miriam Cendrars, "Berne revisitée," Intervalles, no. 18, June 1987, 7-63). Anne Clancier, in "Blaise Cendrars Psychiatre", notes that the only psychiatrists cited by Cendrars are Freud and René Allendy. Cendrars, however, was keenly interested in psychoanalysis. I submit that the spark in his own life was Otto Gross. The object of this discussion is Cendrars's novel "Moravagine" published in 1926. During three long visits in São Paulo, Cendrars consorted with leading artists and intellectuals, among them Oswald de Andrade, Tarsila do Amaral, and Paulo Prado. What prompts this study is the belief that Gross was the catalyst for seminal events in Brazilian literature. I hope to show that Gross provides the fertile intellectual territory for "Moravagine" and inspiration for a truly astonishing epoch in Brazilian intellectual history.

ERDMUTE WHITE, Prof. Dr., Studierte in Heidelberg, Paris, Madrid und den USA. Lehrt Vergleichende Literatur (Ästhetik), Zurich Dada, French and German Cinema Studies an der Purdue University, USA. Gastprofessur Universität Hamburg. Wissenschaftliche Arbeiten über Vertreter der modernen Kunst (Duchamp, Kandinsky, Pessoa, Hatherly, Vigo). Studien im Bereich der modernen luso-brasilianischen Literatur. Essays über ostasiatische Werke und deren Wirkung im Bereich des Expressionismus und Dada: das chinesische Theater der Yüan-Dynastie, das indische Saurapuranam, und das japanische Epos "Chushingura." Letzter Buchtitel: "The Magic Bishop: Hugo Ball, Dada Poet" (Camden: Camden House USA, 1998). E-Mail: ewhite1@purdue.edu

(Pause)
19.00 Uhr

Albrecht Götz von Olenhusen, Freiburg im Breisgau:
Aktion und Utopie: Otto Mühl und Otto Gross im Film

Der Film von Otto Mühl, dem Wiener Aktionisten, trägt den Titel "Wien um 1900" (1986). Er ist ein interessantes, bislang weitgehend unbekanntes Dokument für die Kenntnisnahme von Otto Gross und die jedenfalls auch filmkünstlerische Rezeption seiner Vorstellungen. In dem Einführungsvortrag sollen der Film und sein im Kontext des Kongresses relevanter Inhalt, die dabei mitwirkenden Personen, vor allem auch einige mehr oder weniger Prominente aus dem Umkreis des Wiener Aktionismus, und der Stellenwert innerhalb des filmischen und künstlerischen Oeuvres von Otto Mühl erläutert werden.

ALBRECHT GÖTZ VON OLENHUSEN, Dr. jur., Rechtsanwalt, Rechtshistoriker. Forscht und publiziert zum Urheber-, Medien- und Arbeitsrecht, zur Rechts- und Zeitgeschichte, seit einiger Zeit auch zu Hans und Otto Gross und deren Umkreis. Veröffentlichungen dazu u.a.: Die Sorge des Hausvaters. Die Prozesse des Hans Gross gegen Otto und Frieda Gross (2002); Carl Schmitt, Otto Gross und die Bohème (2003); Hans Gross gegen Otto Gross. Die Geschichte eines Prozesses (2003); Wahnsinn in den Zeiten des Krieges. Franz Jung, Otto Gross und das Kriegsrecht (2005); Der Prozess des Prof. Hans Gross gegen seinen Sohn Dr. Otto Gross (NJW 9,2005, 554ff.); Mitherausg.: Die Gesetze des Vaters. Internationaler Otto Gross Kongress Graz 2003 (2005). Bibliographie der juristischen Schriften unter www.drgoetzvonolenhusen.de

(Ende gegen 20.45)

Sonntag, 18. September, 10.00 Uhr

Esther Bertschinger-Joos, Zürich:
Frieda Gross-Schloffer ­ ihr Leben mit Otto Gross 1906 ­ 1920

Von ihrem Umzug 1906 von Graz nach München bis zum Tod von Otto Gross war das Leben von Frieda Gross vielen Erschütterungen ausgesetzt. Die hohen Ideale und Erwartungen, mit denen Frieda die Ehe mit diesem "seltsamen" Mann eingegangen war, wichen schon bald tiefer Enttäuschung. Ein "Pact" ermöglichte beiden, eigene Wege zu gehen: Frieda blieb, trotz ihrer Beziehungen zu Erich Mühsam, Emil Lask und dem Schweizer Anarchisten Ernst Frick, dem sie zwischen 1910 und 1920 drei Töchter gebar, auf verhängnisvolle Weise mit Otto Gross verstrickt. Von ihren Schwiegereltern wurde sie für die Unfähigkeit ihres Sohnes, sich im bürgerlichen Leben zu behaupten, verantwortlich gemacht. Nachdem Hans Gross 1913/14 Otto entmündigen ließ und zu seinem Vormund wurde, versuchte er, Frieda ­ im Namen, aber gegen den Willen seines Sohnes ­ den ehelichen Sohn Peter wegzunehmen und die Legitimität ihrer ältesten Tochter Eva zu bestreiten. Hilfe bekam Frieda u.a. von Max Weber, der ihr mit Rat und Tat engagiert zur Seite stand.

Eine besonders innige Beziehung hatte Frieda Gross seit ihrer Jugendzeit zu Else Jaffé. 1907 brachten beide von Otto Gross ein Kind namens Peter zur Welt.

Die Briefe von Frieda an Else bilden, so weit sie vorhanden sind, einen Schwerpunkt in meinen Nachforschungen über Frieda Gross. Mit Eva Schloffer, Friedas kürzlich verstorbener Tochter, verband mich eine Jahrzehnte dauernde Freundschaft.

ESTHER BERTSCHINGER-JOOS, Mitarbeit u.a. bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, wo sie Eva Schloffer begegnete, später Pfarrfrau/Familienfrau, Ausbildung zur Musiklehrerin, nach der Pensionierung auf Spurensuche nach dem Leben von Frieda Gross, Postfach 925, CH-8044 Zürich, Tel.: 0041(0)442611014, E-Mail: e.bertschinger@freesurf.ch

Gerhard M. Dienes, Graz:
Gefängniskunde verso Freikörperkultur. Hans und Otto Gross und das adriatische Küstenland

Der Grazer Hans Gross, einer der Reformer des Strafrechts, war derjenige, der die Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin etablierte. Zu ihr gehörte auch die Gefängniskunde als Wissenschaft vom Strafvollzug. Gross beschäftigte sich intensiv mit Zweck und Aufgabe der Strafe und kam zum Schluss: "Theoretisch ist Jeder zu bessern, aber praktisch durchführbar ist es nicht. [ ...] Konsequent wäre es, [...] jeden wirklich Unverbesserlichen hinzurichten, das dürfen wir nicht. Ihn lebenslänglich einzusperren wäre entschieden noch grausamer, [...] es muß also auf ein anderes Mittel der Unschädlichmachung verfallen werden, [...] die Deportation [...]."

Indem er die Dringlichkeit der von ihm geforderten Maßnahmen durch Berufung auf die Degenerationstheorie zu beweisen versuchte, "wird Gross zu einem wichtigen Vordenker der Vernichtungspolitik im 20. Jahrhundert." (Michael Turnheim)

Nun war Österreich-Ungarn keine Kolonialmacht, die Unverbesserliche/Degenerierte in ferne Kolonien verbannen konnte, aber es verfügte über eine lange Küste an der Adria mit tausenden vorgelagerten Inseln. Und so begann das Justizministerium mit Untersuchungen "zum Zwecke der Errichtung" einer "agricolaren Strafcolonie". Diese währten Jahrzehnte und verliefen ergebnislos. Statt dessen erlebten einige der Inseln die Metamorphose zu Urlaubsgebieten, wo sich Fischerdörfer zu Badeorten entwickelten und Naturisten sich in den verlorenen paradiesischen Zustand zurückversetzt fühlten. Auf der Insel Arbe/Rab war bald nach 1900 ein FKK-Gelände entstanden. Hier trafen sich Schriftsteller und Maler und hier finden wir Otto Gross, der den kriminologisch rationalisierten Strafbedürfnissen seines Vaters nichts abgewinnen konnte, unter anderem mit Ernst Frick. Im Sommer 1910 war Gross mit Sophie Benz hier sowie auch auf der Insel Lussino/Losinj, immer solange, bis bei Sophie "die Psychose offenkundig wurde." (Otto Gross). Das gilt auch für die Hafenstadt Fiume/Rijeka, von wo die beiden über Graz nach Ascona zurückkehrten. Monate zuvor waren Otto und Frieda mit Sohn Peter und Ernst Frick in Ragusa/Dubrovnik an der südlichen Adria. Dieser Aufenthalt wurde später aufgerollt, als Hans Gross gegenüber Frieda die Vormundschaft über Peter Gross anstrebte.

GERHARD MICHAEL DIENES, Dr. phil., Historiker, geboren 1953 in Graz, ist seit 1980 im Stadtmuseum Graz beschäftigt. Autor von über 100 Publikationen zur Stadt-, Industrie- und Verkehrsgeschichte, zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes, wissenschaftlicher Leiter und Organisator von über 50 Ausstellungen, darunter "Die Gesetze des Vaters" (gemeinsam mit Ralf Rother) 2003. Stadtmuseum Graz, Sackstr. 18, A 8010 Graz, E-Mail: gerhard.dienes@stadt.graz.at

12.00 - 13.00 Uhr
Raimund Meyer, Zürich, Juri Steiner, Zürich:
Führung durch das "cabaret voltaire" und die aktuelle Ausstellung.

13.00 - 14.00 Uhr Pause

Anschließend

Jennifer E. Michaels, Grinnell, Iowa:
Otto Gross und Robert Musil: Eine mögliche Beziehung?

In seiner Eröffnungsrede zum 3. Internationalen Otto Gross Kongress (Gottfried Heuer, "Eröffnungsrede 3. Internationaler Otto Gross Kongress, "Bohème, Psychoanalyse & Revolution", hrsg. Raimund Dehmlow & Gottfried Heuer (Marburg: LiteraturWissenschaft.de, 2003), S. 12-13) weist Gottfried Heuer auf mögliche Kontakte zwischen Gross und Robert Musil hin. In seinem Essay "Die Biographie der Unruhe", in dem er seinen Gedankenprozess für seine Filmversion von Musils Die Schwärmer aufleuchtet, schreibt Hans Neuenfels (Hans Neuenfels, "Die Biographie der Unruhe", Robert Musil Die Schwärmer: ein Film. Reinbek: Rowohlt, 1985, S. 14), er "halte es für sicher, dass Musil sich - hauptsächlich für die Figur Anselms - vom Phänomen eines Mannes wie Otto Gross (1877-1920) hat inspirieren lassen". In meinem Referat versuche ich festzustellen, inwiefern es Kontakte zwischen Musil und Gross gab. Der Aufsatz untersucht folgende Themenkreise: Musils Kenntnis und seine Haltung zur Psychoanalyse, die Kaffeehauskreise, in denen sowohl Gross als auch Musil verkehrten, und die Menschen, die beide kannten; und schließlich analysiere ich Musils Die Schwärmer, vor allem die Figur von Anselm, um mögliche Vergleichbarkeiten sowohl in der Person Gross und dessen Ideen festzustellen.

JENNIFER E. MICHAELS, Dr., Lehrstuhl für Germanistik am Grinnell College, Iowa, USA, Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zur Prosa und zum Drama des 20. Jahrhunderts, E-Mail: michaels@grinnell.edu

Werner Portmann, Zürich:
Vom Saccharin und anderen weissen Pulvern.

Für Otto Gross waren die in reiner Form weiss erscheinenden Pulver, Kokain und Morphin, ekstatischer Lebensmotor und Lebensgift zugleich. Neben diesen beiden Pulvern spielte ein weiteres weisses Pulver in Gross' Leben zeitweise eine wichtige Rolle: Saccharin.

Saccharin war anfangs des letzten Jahrhunderts in deutschen und österreichischen Apotheken nur gegen Rezept erhältlich und konnte allein in Holland und der Schweiz frei gehandelt werden. Saccharin wurde für Gross vorübergehend zu einer wichtigen Einnahmequelle, denn Gross beteiligte sich am regen Saccharinschmuggel, der sich von der Schweiz und Holland aus über ganz Europa bis tief nach Russland erstreckte.

Der Schmuggel mit Saccharin war aber nicht nur Geldquelle, sondern gleichzeitig auch Sozialprotest gegen den Staat, der einseitig die Interessen der Zuckerindustrie gegen die Interessen breiter Bevölkerungsschichten vertrat. Der stark anarchistisch geprägte Sozialprotest fand darum in der Öffentlichkeit eine breite Unterstützung; führte aber auch zur inneren Aushöhlung der anarchistischen Gruppen.

Wie und wo es zum Verbot des Saccharins kam, wie der Schmuggel organisiert wurde, wieviel zu verdienen war und wer sich mit Gross daran beteiligte, ist Thema des Vortrags. Gleichzeitig versucht der Beitrag Parallelen und Unterschiede zu den Verboten der drei weissen Pulver und den daraus erfolgten Konsequenzen für Otto Gross und sein Umfeld aufzuzeigen.

WERNER PORTMANN, freier Publizist, Zollstrasse 14, 8005 Zürich

16.00 - 17.00 Uhr Abschlußdiskussion

"Die Psychologie des Unbewußten
ist die Philosophie der Revolution!"
Otto Gross, 1913